April 1, 2021

Aus der Praxis – Jola’s Alltagsgeschichten

Walther geht fremd


Walther, 82, sehr dement, körperlich nur wenig eingeschränkt. Seit einem halben Jahr wohnt er nun bei uns. Ein großer, stattlicher Herr der sich schnell integriert hat und auch mit seinen „Spezies“ gerne mal einen Plausch hält und gemeinsame Spaziergänge unternimmt.


Auf diesen Spaziergängen gibt es immer etwas zu entdecken und meistens gibt es danach viel zu erzählen. Manchmal, besonders wenn Walther alleine unterwegs ist, kommt er in Begleitung der Polizei nach Hause. Das passiert immer dann, wenn er etwas orientierungslos wirkt oder auch mal vergisst, im Laden seine Zeitung zu bezahlen.


Die Umgebung passt mit auf!


Alles kein Problem, denn die umliegenden Geschäfte und Tankstellen kennen ihn schon und rufen dann meistens bei uns an.

Klingt alles eigentlich ganz lieb und harmlos. Aber in Walther stecken auch ungeahnte Kräfte und ein auf den ersten Blick nicht sichtbares Aggressionspotenzial.


Potenzielle Aggressivität ist nicht sofort erkennbar!


So kann es vorkommen, dass eine Mitbewohnerin, die etwas zu dicht an ihm vorbeigeht oder mit dem Rollstuhl vorbeirollt, urplötzlich mit dem Gehstock attackiert wird. Das gibt zumindest einen großen Schreck, manchmal kommt es auch zu kleineren Verletzungen.


Oder auch bei den Mahlzeiten passieren unglaubliche Dinge. Walther möchte als erster bedient werden. Pöbelnd und mit dem Stock fuchtelnd, verleiht er regelmäßig seinem Wunsch Ausdruck.


Wir müssen also immer auf der Hut sein und immer ein Auge auf ihn werfen. Denn wenn wir schnell dazwischen gehen und beruhigend auf ihn einreden, nimmt er sofort Abstand, wird ruhig und entschuldigt sich aus tiefstem Herzen.


Plötzliche Ausbrüche


Seine Ausbrüche kommen genauso schnell wie sie wieder gehen.


Walther ist immer wieder für eine Überraschung gut. Vor zwei Wochen gab er uns ein neues Beispiel seiner Kreativität.


Schon seit einigen Wochen beklagte er immer wieder, dass er kein eigenes Badezimmer besäße – was natürlich nicht stimmt. So meinte er, er müsse sich entsprechend umsehen, damit er Toilette und Bad benutzen kann.


Regelmäßig wird er also von den Bewohnern, in dessen Zimmern er sein Glück versucht, darauf aufmerksam gemacht, dass er sich wohl irre. Und dann kann es wieder ganz schnell zu aggressiven Ausbrüchen kommen. Glücklicherweise drücken die Bewohner in der Regel auch den Schwesternnotruf, so dass wir sehr schnell zur Stelle sind und aufklären können.


Manche Bewohner sind sehr kreativ...


Nun begab es sich, dass Walther plötzlich verschwunden war. Da er ja sehr mobil ist, nichts Ungewöhnliches. Aber seine Jacke und sein Stock lagen noch an seinem Essplatz im Speiseraum und am Empfang hatte ihn auch niemand gesehen. Er musste also noch im Haus sein. Aber wo?


Es war also nichts Dramatisches und so schauten wir einfach etwas genauer in einige offene Zimmer, immer die Privatsphäre unserer Bewohner achtend, aber Walter blieb verschwunden.


Nach ca. einer Stunde wollten wir es aber doch genauer wissen. Kurze Absprache mit den Kollegen, wer welchen Bereich intensiver absucht und schwärmten wir aus


Wir brauchten nicht lange suchen. Frohgelaunt, frisch geduscht und schick angezogen stand Walther plötzlich vor uns.


Nicht ungewöhnlich: Verwechselte Kleidung!


Nur – die schicke Kleidung gehörte nicht Walther! Wir wussten sofort, in wessen Schrank er sich bedient hatte. Und wohl auch, wessen Badezimmer geentert worden war!


Einerseits eine Geschichte zum schmunzeln. Aber wohlwissend, dass Walther die Sache wohl etwas anders sehen würde, mussten wir hier besonders sensibel reagieren.


Hätten wir einfach geschimpft und ihn gezwungen, die Sachen wieder herzugeben, wäre Walther ganz sicher ausgerastet.


Reaktion muss immer der Situation angepasst sein!


Also schnell überlegt und „Plan B“ ausgepackt. Seit einiger Zeit legt sich Walter nachmittags gerne mal für eine Stunde hin. Die Gelegenheit! Ein kurzer Blick auf die Uhr und ein kurzer Hinweis, dass es ja schon wieder 16.00 und damit Zeit für ein Schläfchen ist, sorgte gleich für Zustimmung.


Das Austauschen der Bekleidung war also nur noch Formsache. Und Walther hat nie mehr danach gefragt.


Klingt vielleicht komisch, aber tatsächlich ein typischen, fast alltägliches  Beispiel für das Thema „Validation“, dass in der Pflege und sozialen Betreuung ein Kernelement ist.

{"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}
>