Januar 16, 2022
Aus der Praxis – Jola’s Alltagserfahrungen
Traue dich, Entscheidungen zu treffen!
Jürgen lebt nun schon einige Zeit, etwa zwei Jahre, bei uns. Er hat sich gut akklimatisiert, fühlt sich offensichtlich wohl. Man merkt zwar, wie seine Fähigkeiten Stück für Stück schwinden, aber er ist noch recht selbstständig, hat Kontakt zu anderen Bewohnern und genießt sein Leben.
Auch wir von der sozialen Betreuung arbeiten gern mit ihm, denn durch seine umgängliche Art macht auch den anderen Bewohnern die Gruppenarbeiten noch mehr Spaß.
Doch nicht nur sein Naturell hilft Jürgen, auch die Tatsache, dass seine Schwägerin auch bei uns untergebracht ist, gibt bzw. gab ihm offenbar Sicherheit. Denn nun verstarb die Schwägerin, sie war schon länger bettlägerig gewesen.
Der Tod wurde von allen Familienmitgliedern gefasst aufgenommen, da er seit Wochen erwartet worden war.
Wissen wir, was der Erkrankte will?
Aus dieser Situation heraus ergab es sich, dass die Familie plötzlich überlegte, das Zimmer der Schwägerin weiter zu nutzen und Jürgen dort wohnen zu lassen. Hintergrund für diesen Gedanken war vor allem der bessere Blick in den Garten. Jürgen mag den Garten sehr und interessierte sich immer für Bäume.
Jetzt musste eine Entscheidung getroffen werden, Umzug ja oder nein. Natürlich, könnte man denken, wenn denn der Blick doch schöner ist, was spricht dagegen?
Schon brach eine Diskussion los, an der sich alle beteiligen wollten. Die Mehrheit der Familie schien dafür zu sein, es überwog der Gedanke, Jürgen es so schön wie möglich zu machen. Auch im Bereich der sozialen Betreuung wurde eifrig diskutiert, für und wider hielten sich die Waage.
Ist der erste Gedanke immer der richtige?
Ich selbst war dagegen, denn mir erschien ein Umzug doch mit zu vielen Risiken behaftet. Wie würde Jürgen auf die neue Umgebung reagieren? Würde er den Weg in sein Zimmer noch finden? Und überhaupt, so oft hatte er sein Fenster auch nicht genutzt!
Aber wenn die Mehrheit dafür ist, dann soll es so sein. So sagte ich es der Tochter, die so ein bisschen die Sprecherin der Familie war. Ich gab ihr aber gleichzeitig den Tipp, sich zu Hause eine Pro-/Kontraliste anzufertigen, um dann noch einmal zu überprüfen, ob wirklich an alles gedacht wurde. Ganz sachlich sollte sie, vielleicht auch gemeinsam mit der Familie, einfach mal alle Argumente aufschreiben und gewichten. Am nächsten Morgen sollte dann endgültig entschieden werden.
Sorgfältige Abwägung bringt Sicherheit
Am nächsten Morgen folgte dann die Entscheidung: Man hatte sich gegen einen Umzug entschieden. Der Stress des Umzugs, die möglichen Angstzustände bei der täglichen Suche des Zimmers wurden höher bewertet als der mögliche Gewinn an Lebensqualität durch den Gartenblick.
Ich war sehr froh über diese Entscheidung. Zum einen, weil ich genauso gedacht hatte, zum anderen, weil die Familie so einheitlich beschlossen hatte. Leider gibt es bei solchen Fragen immer wieder Streitereien, die sich dann auch auf die Bewohner und Pflegekräfte übertragen. Das hilft wirklich keinem!
Passe deine Entscheidungen der Situation an!
Kurz nach dieser Entscheidung fühlte sich Jürgen plötzlich schlecht. Irgendetwas mit dem Magen. Erster Gedanke: Ihm ist nun doch der Tod der Schwägerin auf den Magen geschlagen. Dazu muss man sagen, dass er deren Tod vorher kaum wahrgenommen und dann schnell vergessen hatte.
Die Schmerzen wurden größer und sowohl die Pflegekräfte als auch die soziale Betreuung plädierten für die Überführung in ein Krankenhaus. Zu stark schienen die Schmerzen.
Allerdings hatte sich die Familie schon vorher für einen „friedlichen Tod“ im Bett seines Zimmers entschieden. Es sollten keine unnötigen lebenserhaltenden Maßnahmen eingeleitet werden.
Wieder war eine Entscheidung zu treffen, wieder wurde mit der Tochter eindringlich gesprochen. Aus unserer Sicht wäre ein Verbleib in der Residenz eine zu große Qual für Jürgen.
Informationen erleichtern Entscheidungen
Glücklicherweise entschied sich die Familie sehr schnell dazu, Jürgen in ein Krankenhaus zu geben. Zum Glück! Es wurde ein schweres Problem mit der Galle diagnostiziert, sie musste schließlich entfernt werden.
Gut, dass Jürgen in ärztlicher Betreuung war! Gut, dass die Familie zu einer schnellen Entscheidung fähig war. Das lag übrigens auch daran, dass sich die Tochter mit diesem Thema näher beschäftigt hatte und so nicht nur „aus dem Bauch heraus“ entscheiden musste.
Jürgen kam schon nach kurzer Zeit wieder zu uns. Er hatte den Eingriff gut überstanden und war wieder ganz der Alte!
Für mich war diese ganze Geschichte wieder ein Lehrbeispiel, wie wichtig fundierte Entscheidungen sind. Man sollte immer bereit sein, sich andere Meinungen anzuhören, sich mit einem Thema tiefer auseinandersetzen, nicht nur dem ersten Impuls zu folgen.
Gleichzeitig muss man auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Sowohl gegenüber dem demenziell Erkrankten als auch gegenüber den An- und Zugehörigen.
Gerade wenn es um hilflose Menschen geht, sollte eine abgestimmte und begründete Vorgehensweise immer an erster Stelle stehen!